Stories

Dienstag, 1. Mai 2007

Black out

Ein Anruf mitten in der Nacht. Mein Rucksack steht wie immer gepackt nahe der Tür, das Handy ist geladen, die Filme für die Kamera liegen im obersten Kühlschrankfach.
Der Flug ist schon reserviert, Bomberger braucht nur noch mein Ja und er muss nicht lange herumreden, dass ich sein bester Mann für einen solchen Einsatz sei, wegen des Kalküls und der Besonnenheit und so fort, auch mit dem Honorar braucht er nicht zu locken - die Arbeit ist mir auf den Leib geschnitten. Jedenfalls kann ich mir keine andere vorstellen, so wird es wohl sein. In der Zeit zwischen einem Auftrag und dem Nächsten vegetiere ich. Mein Herzschlag ist heruntergefahren, als hielte ich Winterschlaf und dann, ein Anruf, bin ich 200 Prozent wach und breche in meinem Appartement auf, um 10, 12 Stunden später in einer anderen Sprache ausgespuckt zu werden, in einem anderen Klima, mitunter mitten in einem Blutbad.
Im Flugzeug lese ich die 20 Seiten vom Pressearchiv, die mir Bomberger zum Flughafen gefaxt hat. Mehr gab es nicht. Unsere Medien werden auf einen Konflikt erst aufmerksam, wenn er schon übergekocht ist. Die Zeit war zu knapp gewesen, um eine kugelsichere Weste zu besorgen. Ich habe noch Bombergers Stimme im Ohr, wie er mir Hals- und Beinbruch wünscht, seine Stimme zitterte leicht, vielleicht lag es nur daran, dass er mit dem Mobiltelefon am Ohr irgendwo entlanglief. Ich solle keinen Schritt von der Hauptstraße abweichen, das halbe Land sei vermint, am besten gar nicht zu Fuß gehen und mir einen einheimischen Fahrer nehmen, einen, der an seinem Leben hängt.
Die Abläufe zwischen dem Flughafen und dem Hotel sind in jedem Land gleich. Dann hält das Taxi vor einem Gebäude, das wie ein Rohbau aussieht. Es ist das einzige Hotel in der Stadt, in dem es noch Strom und Wasser gibt, wie der Fahrer sagt. Unterwegs hatte er sich geweigert, anzuhalten, als ich eine Leiche fotografieren wollte, die rücklings auf dem Fußweg lag.
Die Hotelhalle wirkt gespenstisch. Normalerweise treffe ich hier Kollegen von den Fernsehstationen und erfahre die ersten Details. Orangebraune Haut, schwarze, nach hinten gebundene Haare, die Frau am Empfangstresen hält die Augen niedergeschlagen, mein Blick hängt an ihren Lippen, aber ich höre kaum, wie sie mir in gebrochenem Englisch das Übliche erklärt. Als sie sich zur Seite neigt, weht ein zarter Duft zu mir herüber. Eine muskulöse und trotzdem kindliche Hand schiebt mir den Schlüssel über die Theke.
Ich bringe meine Sachen in das Zimmer. Die Arbeit beginnt. Wenn ich nach einem Bombenabwurf aus einem Keller trete, sind mit der versenkten Luft die Fragen da. Wer? Wo? Was? Wann? Warum? Wenn mir jemand das Gehirn zerschießen würde, wären die Fragen noch im Rückenmark gespeichert.
Das Telefon in der Hotelhalle ist tot. Die Frau erscheint nicht am Empfang, auch nicht, als ich die silberne Glocke drücke, die in der ärmlichen Umgebung wie ein Beutestück aussieht. Ich würde mich zu dem Ort durchfragen müssen, an dem ich meinen Informanten zu treffen hoffe und auf dem Weg dorthin das Foto machen. Auf der Straße höre ich weder Autos, noch Vögel. Maschinengewehrsalven wären mir fast noch lieber als diese Stille. Reste von rudimentären Möbeln liegen vor den geplünderten Häusern. Ich orientiere mich am Stand der Sonne, an den Schatten, die die Behausungen werfen. Ich sehe die Leiche. Ein Hund macht sich an einem Arm des Toten zu schaffen. Er knurrt, als ich näher komme, zerrt vergeblich mit wütend gefletschten Zähnen, zieht dann den Schwanz ein und verschwindet zwischen den Häusern.
Mir war schon im Taxi klar geworden, dass ich dem Zeitungsleser zum Frühstück keine Leiche anbieten kann. Ich muss ein Detail finden, dass den Schrecken des Ganzen symbolisiert. Beim ersten Vorbeifahren trug der Tote noch seine Schuhe. Ich stelle scharf und fotografiere seine nun nackten Füße. Jemand hat die Schuhe gestohlen. Die Leichenflecke sieht man auf schwarzweiß kaum und die Geschichte gar nicht. Die muss ich dazu schreiben.
In drei Tagen geht mein Flug zurück. Drei Tage Zeit, um bestenfalls den Rebellenführer ausfindig zu machen, mit viel Geschick ein Interview oder aber wenigstens ein paar Hintergrundinformationen, einen roten Faden in einer Sache, die von oben so verworren aussieht.
Mister!, höre ich es hinter mir leise rufen. Ich drehe mich um und sehe niemanden.
Don’t go there!

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Sonntag, 1. April 2007

Katzennacht

Wenn andere Menschen zu Bett gehen, erwache ich. Ich erwache von einem Grollen, das aus meinem Inneren kommen muss. Ich schlüpfe in die kleinen Stoffpantoffeln; sie tragen mich in die Küche, vorbei am Bad mit dem kaltgewordenen Badewasser, das noch duftet. Ich hatte vergessen, den Stöpsel zu ziehen. In der Küche finde ich nichts zu Essen, die Schränke sind leer, einzukaufen hatte ich auch vergessen. Nur Schokoladen-Eier im feinmaschigen roten Netz liegen noch in einer Schale von Ostern. Ich wickle eins aus, die Folie ist hauchdünn, reißt, ich muss Ei für Ei mühsam abpellen. Das bringt wenig, am liebsten hätte ich mir eine Hand voll in den Mund gestopft. Es grollt wieder. Ich halte es nicht aus. Ich nehme dies und jenes Kleidungsstück zur Hand, aber ich bin zittrig, muss los, ziehe nur einen schwarzen Stoffmantel über das Nachthemd, schlüpfe in meine Pumps, die Zehen entspannen sich, weil ich sie in den Stoffpantoffeln immer einkrallen muss, um nicht zu schlurfen. Ich erinnere mich an die Katze, die mir einmal zugelaufen war. Sie suchte sich zum Schlafen eine winzige Kiste, deren Wände die Tatzen an ihren Körper drückten, so dass sie ihr nicht wegrutschen konnten. Wenn ich das Tier schlafend aus der Kiste nahm, hing es schlaff in meinen Händen wie ein leeres Stück Fell. Aber das Fell atmete und ein Ohr zuckte von der Fliege, die es im Traum streifte. Die Vorstellung, zehn winzige Katzen an meinen Füßen zu tragen, behagt mir nicht. Ich ziehe die Pumps wieder aus. Meine Stoffpantoffeln tragen mich die Steinstufen hinunter, lautlos durchs Haus. Trotzdem weiß ich, dass sie wissen, dass ich es wieder bin. Frau Wächner schüttelt hinter der Gardine den Kopf und sagt, so etwas müsste man verbieten. Sie wird lange keinen Schlaf finden, sie wird eine Schlaftablette nehmen und ihr Mann wird, wenn sie endlich schläft, in den Schlitz seiner Pyjamahose greifen und seinen Atem so gleichmäßig halten, als würde er tief schlafen.
Der Imbissstand hat schon geschlossen. Die Nacht ist weder warm noch kalt. Ich spüre die Luft auf meiner Haut, an meinem Hals, an den Beinen. Eine Ratte verschwindet in einem halboffenen Müllcontainer. Ich wusste nicht, das Ratten so gut klettern können. In der Bar Zur Mäusefalle brennt Licht. Zu Essen werden nur Pommes frites geboten. Ich habe kein Geld bei mir. Nicht vergessen, ich habe keines. Ich soll für sie tanzen, sie drehen die Musik auf. Vielleicht habe ich das schon einmal getan. Ich steige auf den Tisch. Ich klatsche in die Hände und schlüpfe in die Haut einer Flamencotänzerin. Ich weiß, dass sie denken, dass ich nicht weiß, was ich tue. Ihre Blicke treffen meine Scham. Sie pulsiert, ich pulsiere, schwelle an. Sie strecken mir ihre Finger entgegen. Ich könnte mein Nachthemd über einen Kopf stülpen, über Augen, Mund, stachelnden Bart.
Nur einer, der abseits sitzt und seinen Augen nicht zu trauen scheint, zieht mich an. Ich tanze ihm zu, obwohl er zu jung ist, schüchtern, Pickel im Gesicht, noch nie eine Frau gehabt, denke ich. Seine Augen gefallen mir.
Der Wirt hält mir die Pommes auf einem Teller hin, ich steige herab, eine Hand landet auf meinem Hintern. Ich sehe ein fettes, rotes Gesicht und dränge mich zu einem freien Platz. Sie starren mich noch eine Weile an, wie ich die Pommes einzeln durch den Ketchup ziehe, an zwei Fingern hochhebe wie Sprotten und sie zappelnd in meinem Mund verschwinden lasse. Ich höre nicht, was sie reden, nur die Musik.
Ich weiß auch nicht, ob der Junge etwas zu mir gesagt hat, oder ob er mir stillschweigend folgt. Vor dem Container liegt zerfetzte Pappe. Hinter mir spüre ich den Jungen, der mir an einer unsichtbaren Kette folgt.
Bei Wächners brennt Licht. So können sie nicht auf die Straße sehen. Die Wirkung der Tablette hat nicht lange angehalten. In Erwartung der regelmäßigen Empörsamkeit stopft sich Frau Wächner die Ohren zu, setzt ihre Gummibadekappe auf, damit die Stöpsel nicht herausfallen und unter ihrem Kopfkissen betet sie zum Herrgott, dass das da oben endlich aufhört, also ich, dass ich endlich abtransportiert werde, weil so etwas verboten gehört.
Im Treppenhaus...

Weiter lesen in: All die schönen Sünden, Rowohlt oder zu hören unter gleichnamigem Titel bei audiobook
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Donnerstag, 1. März 2007

Yesterday

[English version]

Sie wusste nicht, wie lange sie schon so gelegen hatte. Irgendwann musste sich der Deckel der Truhe durch den eingebauten Automatismus geöffnet haben. Ihre Anwesenheit in sich selbst trat so langsam ein, wie die Kälte von ihr wich. Es gab keinen klaren Punkt, an dem ihr Bewusstsein eingesetzte. Als etwas in der Tiefe der Wohnung klingelte, richtete sie sich reflexartig auf. Sitzend spürte sie, dass sie nichts hielt, keine Muskeln und keine innere Kraft. Sie hing schlaf in sich. Um ihren Arm auf den Truhenrand zu werfen, sammelte sie alle Energie. Das Telefon läutete. Sie sammelte sich wieder. Sie warf den zweiten Arm gummiartig hinterher, hängte den Kopf über den Rand. Nach drei Minuten setzte das Telefon kurz aus und begann von Neuem. Das Gewicht von Kopf und Armen, dem nachgeschobenen Oberteil zog sie allmählich zu Boden, wo sie weich und ächzend landete. Mit großen Pausen schob und zog sie sich über den Holzboden in Richtung des Telefons. Sie stieß den Hörer mit ihrer Nase von dem am Boden stehenden Apparat und ließ ihren Kopf schwer atmend neben die Hörmuschel sinken. Ein im Rückenmark gespeicherter Reflex ließ einen Ton aus ihr entweichen. Er klang rau und wenig menschlich.
Hallooo!, sagte daraufhin ein junge, schwungvolle Männerstimme. Hier ist das Institut für Medienforschung. Wir würden gern eine kleine Umfrage mit Ihnen machen. Natürlich, falls Sie im Moment keine Zeit oder Lust haben, weil Sie gerade zerschlagen von der Arbeit kommen, dann können wir gern einen Termin mit Ihnen vereinbaren. – Hallo, sind Sie noch da?
Mhm.
Also, gut. Sie werden sehen, es dauert höchstens eine Viertel Stunde.
Er klärte sie zu Fragen des Datenschutzes auf. Die Worte fielen tröpfchenweise in ihr Gehirn. Nur Wendungen, die sich häufig wiederholten, lösten in ihr etwas aus- einen Zwang zur Nachahmung. Sie lernte, Ja und Nein zu sagen. Nach ein paar Minuten schob sich ein Vorhang beiseite und sie verstand ganz klar, was er sprach. Zumindest die Sätze verstand sie, Wort für Wort. Er fragte, welche technischen Geräte sie besitze und zählte alles auf, was in einem modernen Haushalt zu finden sein müsste. Ihr Blick schweifte durch den Raum, ohne an etwas hängen zu bleiben. Sie antwortete mit Ja oder Nein, wie es ihr in den Sinn kam. Beim Wort DVD zögerte sie.
Was ist das? schälte sich langsam aus ihrem Mund.
Sie kennen DVD noch nicht?, fragte er etwas ungläubig und klickte dann im Computer das entsprechende Kästchen an. Die Zeit lief mit.
Nun zu Ihren Freizeitaktivitäten. Treiben Sie Sport? Handarbeiten wie Häkeln, Stricken. Haben Sie Haustiere, Hund, Katze?
Sie betrachtete das Spinnennetz, das mit dem Abnehmen des Hörers zerrissen war und sagte: Spinne.
Aha, also exotische Haustiere. Haben Sie einen Garten?
Dieses Wort löste eine Welle von Wärme und Zärtlichkeit aus wie eine verschüttete Erinnerung, die mit unerwartetem Licht wieder in das Leben tritt.
Das wäre schön, sagte sie, mit jedem Wort ringend.
Der junge Mann klickte Nein an und sah die Zeitanzeige rechts oben. Wenn die Frau weiter so langsam antwortete, würde er Punkte abgezogen bekommen. Was war mit ihr, warum klang ihre Stimme so fern und kraftlos. Er klickte eine Reihe von Neinfeldern an und sprang zu der Frage, welche Fernseh- und Radiosender sie als Letztes gesehen oder gehört hatte. Bis auf BRC kannte sie keinen der Sender, die er nannte.
Wann haben Sie BRC das letzte Mal gehört: Gestern, vor mehr als einer Woche, vor mehr als einem Monat?
Gestern, antwortete sie nach einer Weile. Das Wort war ihr hängen geblieben, es klang schön.
Also gut, sagte er und atmete tief durch. Um den Befragten das Antworten zu erleichtern, werden wir Sie im Folgenden bitten, den gestrigen Tag Stunde für Stunde zu rekonstruieren, mit dem Aufstehen beginnend.
Sie konnte nicht mehr. Die Benutzung ihrer Stimmbänder hatte sie ermüdet. Der junge Mann sah auf seine Minuspunkte. Wenn er das Interview abbrach, würde er noch einmal Punkte abgezogen bekommen. Er war zu tief drin, er horchte in seinen Kopfhörer, versuchte sich die Frau vorzustellen, deren Stimme alterslos und entspannt klang, nachdem sie wie unter einem Pelz zum Vorschein gekommen war.
Wann sind Sie aufgestanden?
Seine Stimme klang für sie warm und lebendig. Ungefähr, welche Uhrzeit?
Elf, probierte sie aus.
Nachts oder Mittags?
Zwei elf.
Wie bitte? Ach zwölf, also zwölf mittags. Was haben Sie dann gemacht. Sind Sie erst ins Bad oder erst in die Küche? Haben Sie im Bad ein Radio? Welchen Sender haben Sie gehört? BRC. Aha. Und dann sind Sie zur Arbeit gefahren?
Nein, sie besaß kein Autoradio. Sie verbrachte den Tag im Büro. Während der Arbeit hörte sie kein Radio. Danach ging sie einkaufen. Es lief Musik im Kaufhaus. Sie traf sich mit Freunden in einer Bar. Es lief Musik vom Band. Abends sah sie fern von zehn Uhr bis Mitternacht. Bald hatte er es geschafft. Zwölf Minuspunkte bedeuteten einen Abzug von sechs Prozent vom gesamten Tagesverdienst.
Wie viele Personen unter sechszehn Jahren leben in Ihrem Haushalt?
Ich habe Hunger, glaube ich.
Das kann ich gut verstehen, sagte der Mann nach einer Weile. Wir sind auch gleich mit den Fragen am Ende.
Während er mechanisch vom Bildschirm ablas und genauso wahllos etwas anklickte wie sie wahllos antwortete, versuchte er die Bruchstücke dieser Frau zusammen zu setzen. Sie besaß eine gewisse Sprödigkeit. Sie war schön. Das ist zwar idiotisch, aber das konnte er hören. Sie lebte allein, arbeitete im Büro. Wahrscheinlich in der Kreativbranche, wo man sich während der Arbeit konzentrieren musste. Aber wie konnte es sein, dass sie dann keine Sender kannte, weder die Öffentlichen, noch die Privaten, bis auf BRC, einen der ältesten Senders des Landes, der vor kurzem von einem Privaten aufgekauft wurde. Warum stand sie an einem Wochentag erst um Zwölf auf?
Zum Schluss fragte er sie, wie lange das Gespräch ihrer Meinung nach gedauert hätte. Sie sagte Zehn und er las fünfunddreißig Minuten ab.
Haben Sie das Gespräch eher interessant oder eher uninteressant gefunden?
Interessant. Sehr.
Nun las er eine Frage aus seinem Kopf ab. Die Zeit war ohnehin überschritten und er hätte gern einmal einen zusammenhängenden Gedanken von ihr gehört. So fragte er, ob sie noch etwas fragen oder sagen wolle.
Sie hätte gern gefragt, ob in den letzten Tagen oder Jahren etwas Besonderes passiert sei. (Sie hätte dann erfahren, dass es einen folgenschweren Stromausfall im ganzen Land gegeben hatte.)
Aber sie sagte Nein und er bedankte sich und beendete die Verbindung mit einem letzten Klick. Das penetrante Piepen im Hörer schmerzte in ihrem Ohr. Sie raffte sich dazu auf, den Hörer in seine Mulde zurück zu legen. Sie zog sich über den groben Teppichbelag durch den Raum. Der Spiegel stand schräg an die Wand gelehnt. Eine millimeterdicke Schicht Staub hatte sich angesammelt und kam wie eine Lawine ins Rutschen. Sie blickte gefasst in das Augenpaar gegenüber. Ihre Haut war bläulich blass und faltenlos. Unter dem Ansatz zu einem Lächeln sammelten sich einige Fältchen in den Grübchen am Mund und verschwanden sofort wieder. Das Telefon klingelte ausdauernd.
Als sie es erreicht und den Hörer wieder heruntergelegt hatte, hörte sie seine Stimme.
Ich weiß, es ist etwas ungewöhnlich, aber dürfte ich Sie zum Essen einladen?
Ja, sagte sie. Etwas Warmes, bitte.


veröffentlicht als gleichnamiges Kurzhörspiel, Regie: Anna Kaleri 2005
383mal gelesen

Donnerstag, 1. Februar 2007

Vierbeinig

[English version]

Meine Freunde haben auf den ersten Blick gesehen, dass es mit ihm und mir nicht gut gehen kann. Sie gaben uns höchstens ein paar Wochen. Und sie hatten absolut recht: Es ist eine Katastrophe und das schon seit fünf Jahren. Wir streiten uns nie, denn mein Kampfgeist tritt phasenverschoben zu seinem auf. Wir könnten uns z.B. nicht über einen Film oder ein Stück entzweien, weil ich nicht ins Kino gehe und er mich niemals ins Theater begleitet. Geschichten aus der Vergangenheit tauschen wir nicht aus. Wir sind uns nicht ähnlich genug, um uns in der Geschichte des anderen heimisch zu fühlen und nicht unterschiedlich genug, um die Geduld zum Zuhören aufzubringen. Selbst unsere Zukunft, die eigentlich gleichermaßen vor uns liegt, können wir uns nicht gemeinsam ausmalen. Er möchte in der Hauptstadt Karriere beim Fernsehen machen und wartet auf einen günstigen Moment. Ich studiere Landwirtschaft und möchte eine Korkplantage in Portugal übernehmen.
Was uns zusammenhält, ist natürlich die Bettgeschichte. Im Bett haben wir es gut miteinander. Wir entzünden uns gegenseitig, laden uns auf, legen die Nerven frei, bis sie wund werden. Was nicht heißt, dass es mit jemand anderem nicht gut oder sogar besser wäre. Und es ist auch nicht immer gut. Es gibt eben solche und solche Nächte.
Immer gleich ist die kleine Verwandlung, die mit ihm vor sich geht, kurz nachdem er das Kondom routiniert abgezogen und das Gewicht seiner in Gummi baumelnden Leistung eingeschätzt hat. Er überbrückt noch notdürftig mit dem gestreckten Arm die Entfernung, die durch die Kondomentsorgung zwischen uns entstanden ist, dann rollt er sich ausgepowert und zufrieden zum Schlafen ein. Er schläft sofort ein und nach einer Weile höre ich an seiner Hand (immer ist es die Rechte), wie die Fingernägel wachsen. Die Krallen biegen sich um samtweiche Ballen und die Finger ziehen sich ein, die Hand wird runder und die Härchen auf dem Handrücken beginnen zu wuchern. An seinem Kopf schieben sich die Spitzen der Ohren aus den Haaren und glänzendes, schwarzsamtiges Haar wächst nun aus jeder Pore seinen Körpers. Der Schwanz legt sich in behaglichem Bogen vor seinen Bauch. Wenn ihn im Traum etwas aufregt, beginnt die Schwanzspitze zu zucken. Dann streichle ich ihn und manchmal erwacht er kurz, blickt mir klar und brunnentief und irgendwie abwesend in die Augen, putzt aus Reflex einmal über seine stattlichen Schnurrhaare und schläft weiter.
Mit dem Morgenlicht gewinnt er seine alte Gestalt zurück. Er schaltet seine Fernseh- und Hauptstadtgedanken ein, noch bevor er merkt, dass jemand neben ihm liegt. Einen Morgenkuss erwarte ich schon lange nicht mehr. Ich bin glücklich über sein kleines Geheimnis und behalte es natürlich für mich, denn ich würde ihn ungern in seinem Selbstbild verstören.
Da ich so genau weiß, warum ich an ihm hänge, frage ich mich nur von Zeit zu Zeit, was ihn eigentlich an mir hält.


veröffentlicht in: Tierische Liebe, Eichborn, 2005
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