Es beginnt mit einem lautlosen Vibrieren, das an den Schleudergang einer beladenen Waschmaschine erinnert, wenn sie sich allmählich in Schwung wuchtet und erst den Boden, auf dem sie steht, in Schwingung versetzt, sich dann auf die Wände überträgt, die mit dem Holzboden meines Zimmers verbunden sind und schließlich auf das Holzgestell meines Bettes. Ich spüre die Vibration in meinen Waden.
Wir liegen durchgeschwitzt nebeneinander, die Glückseligkeit ist auf dem Weg zum Fenster in den Gardinen hängen geblieben.
Sie sind überall. Mit ihren Brillen und streng nach hinten gekämmten Pferdeschwänzen, die unsere angehenden Akademikerinnen aussehen lassen wie Zwölfjährige. Mit überpuderten Pickeln, weggespartem Lippenstift. Sie tragen Hosen, körperbetont mit der Betonung auf wenig ausgewogene und schon gar nicht wogende Hinterteile. In der Linguistik ist es das Gleiche wie in den Naturwissenschaften und in der Abteilung für Psychologie. Nur in die Kulturwissenschaften verirren sich vereinzelt praktizierende Ästhetinnen, die jedoch, wenn ich das nächste Mal aufblicke, eine besitzergreifende Pranke auf ihrer Schulter liegen haben. Von einem männlichen Wesen, das eher zur ersten Kategorie Frau gepasst hätte, versteht sich.
Heute erklimme ich, meine Bücher unter dem Arm, die Wendeltreppe zur Philosophie. Das Thema für mein Referat hat mich nach einer halben Stunde des Ringens gepackt. Nach zwei Stunden jedoch fangen die Buchstaben unter meinen Augen an zu einem hellgrauen Brei zu verfließen und mir wird klar, dass der Inhalt der Zeilen schon seit der letzten Seite nicht mehr zu mir vorgedrungen war. Ich lege die Brille beiseite und breite die Arme über meinen Spiralblock und lege den Kopf in die weiche Mulde. Das Papier bildet eine Isolationsschicht zwischen meiner Wange und der Nacktheit des lackierten Holzes. Nirgends kann man so wunderbar schlafen wie in einer Bibliothek. Die gedämpften Geräusche verwischen zu dem so genannten weißen Rauschen, das einen an die Zeit im Mutterleib erinnern soll.
Ich hörte eine weiche Stimme. Sie ließ mich aus dem Uterus auftauchen und am Ufer der Realität stranden, wo allerdings ein sehr weich gezeichnetes Dekolleté in meinen Blick fiel. Ich setzte die Brille auf und war begeistert darüber, dass der Weichzeichner nur unwesentlich nachließ.
Du hast das einzige Exemplar, sagte die weiche Stimme.
(...)
Kaum hatten wir den Vorraum durchschritten, umgab uns der Geruch von Moos. In dichten Schleiern stieg die heiße Feuchtigkeit auf. Aus vergoldeten Schlangenköpfen floss unaufhörlich das Wasser. Ich füllte eine Schale und ließ das Wasser in die Zweite überschwappen, hin und wieder zurück. Ich hatte ein Tüchlein unter mich gelegt, so wie die Tante es mir gezeigt hatte. Wenn ich mich drehte und beugte, spürte ich den nassgesogenen Stoff. Ich ließ das Wasser über meinen Rücken laufen, dann über die Brüste. Es jagte mir einen Schauder ein, immer noch war es ein wenig zu heiß. Die Tante seifte mich ein, schrubbte meinen Rücken und schlug mit dem Lappen, dass es schäumte. Dabei dachte sie an den unglücklichen Onkel, der für ein Jahr von der Familie weggeschickt worden war, weil er seine schwarzen ausufernden Augen nicht von mir lassen konnte. Meine Beckenknochen scheuerten auf den Kacheln, aber ich gab keinen Ton von mir.
Ich trocknete mich ab und hüllte mich in ein Laken. Die Tante bestellte einen Tee für uns und ich ließ mich auf einem Teppich nieder, schob mir die Seidenkissen mit Knöpfen und goldenen Troddeln zurecht. Musik wurde angestellt. Ich nippte an dem Gläschen. Die Tante redete mit gedämpfter Stimme und flinken Handbewegungen mit den anderen Frauen, die wie Schiffe aus Fleisch auf einem trägen Meer wogten.
Ich träumte meinen liebsten Traum.
Ich hätte einen Raum für mich allein mit einem großen Spiegel darin. Vor ihm würde ich einen Tanz üben, mit dem ich meinem zukünftigen Mann gefallen würde. Wenn ich mir vorstellte, wie er sich mit begehrlichen Blicken bis zum Ende des Tanzes zügeln musste, sah ich Farshad, meinen mittleren Bruder vor mir. Der hart ausgestoßene Schlag der Musik drang in meinen Körper und wurde weich aufgefangen. Ich kreuzte die Enden eines dreieckigen Tuches über der Brust. Der durchscheinende Stoff glitt über meine Brüste. Die Fransen ahmten mit kitzelnden Schwüngen das ruckartige Winden meines Körpers nach. Ich griff in die Luft, um das schöne Gesicht meines Geliebten zu umschreiben. Ich schob meinen Rock in beiläufigen Bewegungen über die Hüften, sah Farshad an den Stäben des Brudergefängnisses rütteln und schreien, ohne das ein Ton aus ihm drang.
Zeit für die Massage, Hanane, sagte die Tante.
Seine Entzweiung vom Mutterleib und damit eigentlich von der ganzen Welt, hatte schon vor der offiziellen Geburt begonnen. Sie bedeutete die Glasscheiben des Brutkastens. Später trennten sich seine Eltern. Er sprach nicht oft darüber, aber es war schon klar, dass er sich mit dem Fehlen von Mutterbrust und funktionierendem Familienmodell aus der Verantwortung ziehen wollte. Sein Leben verlief als zickzackförmige Vorwärtsflucht auf der Spur einer jeweils brandheißen und bestenfalls großbusigen Frau. Manchmal geriet er an eine kleinbusige, familiäre Frau, aber immer kam etwas Neues dazwischen. Aus diesem Grund beschrieb er sein Telefonbuch nur mit Bleistift und konnte so die nicht mehr aktuellen Nummern problemlos ausradieren. Mit zweiunddreißig fühlte er sich eine Zeitlang todsterbenskrank. Der Arzt konnte nichts feststellen außer einer Katzenhaarallergie. Mit fünfundvierzig befiel es ihn noch mal, als seine ehemaligen Kommilitonen schon mit ihren Kindern Abituraufgaben lösten. Er ließ seinen Samen und sein Blut untersuchen und weil die Wissenschaft schon sehr fortgeschritten war, konnte man ein Gen nachweisen, das man auch in den jahrhundertealten Knochen von Don Juan und Giacomo Casanova entdeckt hatte: Das Casanova-Gen. Nach diesem Befund fand er sich mit seinem ohnehin nicht besonders unbequemen Schicksal ab, ja, es lieferte eine Erklärung, die noch unanzweifelbarer war als jede zuvor– bis nach ein paar Wochen ein Ergebnis nachgereicht wurde. Man hatte die frische Untersuchung mit der Blutentnahme aus seiner Frühchenzeit verglichen und konnte dort kein solches Gen entdecken.
Als ich nach einer Erledigung, die länger gedauert hatte als erwartet, aus dem marmorkalten Inneren der Bank ins Freie trat, bahnte sich ein Hupgeräusch den Weg durch die dröhnende Eintönigkeit des Großstadtverkehrs. Ich sah eine junge Frau unter dem morgenblauen Himmel in der offnen Tür ihres Wagens stehen. Der routinemäßige Wechsel von Hupe drücken und - loslassen hinterließ in ihrem Gesicht weder Anzeichen von Wut noch Resignation. Das Auto, das ihr die Möglichkeit zum Wegfahren versperrte, war meines. Ich bediente die Fernbedienung erst, als ich schon vor der Fahrertür stand und hoffte, dass die Frau das unterdrückte Quietschen der Verriegelung als eine Art Entschuldigung auffasste. Ich schaltete gedankenlos den Motor ein und sah beim Blick über die Schulter, dass die Frau noch immer in der Tür ihres Wagens stand. Die Sonne fiel direkt in ihre Augen. Ihr helles Haar wurde umgeben von einem rötlich goldenen Schein.
Ich ließ die Scheibe herunter.
Wollen Sie einen Kaffee mit mir trinken?
Sie sah mich an, irgendwie erwachend und ohne Zornesausbruch.
Ja, warum nicht, erwiderte sie langsam.
Ich kenne um die Ecke einen netten Platz, sagte ich, meine Ungläubigkeit überspielend.
Sie sagte, dass sie wohl einen ganz passablen Parkplatz hätte. Sie schloss ihr Auto ab, stieg in meinen Wagen und ich fuhr wie in Trance durch die Stadt, in der ich schon immer lebe und erinnerte mich doch nur vage, manche Ecken schon einmal gesehen zu haben. Wir fanden einen Parkplatz nahe dem Stadtpark. Ein paar Momente später schritt sie neben mir her, die Kiesel knirschten unter den Füßen. Über den Teich schwappte Gitarrenmusik, jemand, den man nicht sehen konnte, klimperte „Stairways to heaven“. Als hätte sie erraten, was mir diffus durch den Kopf ging, schmunzelte sie hörbar, während wir drei, vier Stufen erklommen und auf ein leeres Parkcafé zusteuerten.
Was hatten Sie denn heute noch vor, mit Ihrem Tag?, fragte ich.
Das erzähl ich Ihnen später. Erst sind Sie dran.
Ich sah eine gefleckte Katze vor einer Reihe von Büschen entlang huschen und fragte mich, wie sie hier her kam und vor allem, wie wieder heraus, über all die schwer befahrenen Straßen, die den Park umgaben.
Mein Tag?, sagte ich. Ganz gewöhnlich, ein paar Termine, Mails schreiben, Kalkulationen, am Abend ein Essen mit Geschäftspartnern.
Ich entschuldigte mich nach diesem Stichwort, rief im Büro an, schwindelte fließend und gelinde in das Mobiltelefon und schaltete es aus.
Nun Sie, sagte ich und wagte, ihre ausgestreckt auf dem Tisch liegende Rechte mit meinen Händen einzuzäunen. Einzumauern. Ich nahm eine Hand wieder weg.
Ich wäre mit dem Zug elf Uhr fünfundvierzig nach Barcelona gefahren, um dort morgen zu heiraten.
Oh, gratuliere, sagte ich reflexartig. Ich schaute eine Weile auf das Wasser. Der unsichtbare Gitarrenspieler suchte gerade in seinen Noten.
Ich lege den Taschenrechner beiseite, unterschreibe, falte das Papier, füge die Klebelaschen aneinander. Dann schäle ich mich aus meiner Tageskleidung, die mir staubig vorkommt. Ich stelle mich in die Badewanne. Die Emaille unter meinen Füßen bleibt lange kalt. Ich verbrauche beim Duschen so viel Wasser wie andere beim Baden, heißes Wasser. Rot wird meine Haut, leuchtend von innen, fleischig. Ich dehne mich in meiner Haut aus, fühle etwas in mir pulsieren, gegen den Schlaf, zu dem ich mich zwingen müsste.
Ernst schnarchelt leise im verzerrten Lichtkarree, das die Badezimmerlampe zu ihm herüber wirft. Er steht morgens um Sechs auf und muss deshalb abends um Zehn ins Bett. Ich ziehe mein Nachthemd über, blaue Blümchen auf weißem Baumwollgrund. Und darüber meinen schwarzen Rock, der noch vom Theater am Wochenende über dem Paravent hängt, dann Wollstrümpfe und meine bequemsten Schuhe. Den Wollschal schlinge ich dreimal um meinen Hals. An meinem Pelzmantel hängt ein Knopf nur noch an wenigen Fäden, aber ich habe keine Geduld für Nadelöhr und Faden.
Auf den Stufen einer Villa flackert Licht in dem ausgestochenen Schlund eines Kürbisses. An der Hauptstraße verdoppeln sich die Laternen und ihr Licht. Der Briefkasten, der nah am Bordstein steht, leuchtet in schmutzigem Gelb. Nur kurz, mit dem Blick auf die Bushaltestelle für den Flughafenzubringer, der Gedanke, der beginnenden Winterstarre zu entkommen. Hinter der Klappe gähnt dunkle Tiefe, am Tag öffnet manchmal jemand von der anderen Seite, dann fällt unvermutet Licht ein und es ergibt sich ein Durchblick oder ein Blick in ein fremdes Augenpaar, das genau wie ich dem Brief noch eine Weile folgen will, um sicher zu stellen, dass er wirklich im Kasten landet. Ich lasse die Klappe sinken. Nicht weit von mir fällt etwas klimpernd zu Boden. Eine Münze rollt über das Gehwegpflaster und gerät in einen Spalt. Ich hebe sie auf, die Münze ist groß wie ein 50-Cent-Stück, aber die Prägung erscheint mir seltsam.
Wie wär’s mit San Salvador?, fragt eine dumpfe Stimme aus der Bushaltestelle. Sie kommt von einem schwarzen Mantel, aus einem leeren Gesicht unter einem tief gezogenen Hut hervor. Ich strecke dem Mann leicht zitternd die Hand mit dem Geldstück entgegen.
Ich glaube, Sie haben etwas verloren.
Du kennst mich nicht?
Ich versuche etwas zu finden, an dem ich mich festhalten kann. Nichts. Meine Augen gleiten ab.
Natürlich kennst du mich.
Ich glaube, Sie verwechseln mich, sage ich und lasse meine ausgestreckte Handfläche federn, um den Mann an sein Geldstück zu erinnern. Auf meiner Hand liegt, eingerollt in die Mulde der Fingeransätze, ein Geldschein.
Alles, was du dir wünschst, sagt die Stimme.
Deswegen kommst du erst jetzt, stellte Josephine fest.
Mich wollte kein Taxifahrer mitnehmen, sagte ich.
Ich hätte dich ja abholen können.
Es gab da Einiges, dass ich ihr nicht erklären konnte. Zum Beispiel, warum mir dieses abgehärmte Fellbündel überhaupt im Müll an der Straße aufgefallen war oder warum ich ohne nachzudenken nach ihm griff. Mir war es selbst schleierhaft, wie ich es unbemerkt durch den Zoll geschleust hatte oder wie es mir gelungen war, die Stewardess zu besänftigen. Schon bevor mir die Katze zulief oder genauer, bevor ich ihr meine Idee von einem besseren Leben aufdrängte, hatte ich zu Hause angerufen und Josephine gesagt, dass sie mich nicht abzuholen brauche. Dreizehn Stunden Flug erschienen mir viel zu kurz, um von Nepal Abschied zu nehmen und in Wien anzukommen, bei Josephine.
Ich nannte die Katze Kumari und erklärte meiner Frau, ich hätte das Wort irgendwo aufgegriffen, wüsste aber nicht, was es bedeute. Beim Tierarzt stellte sich heraus, dass Kumari alle erdenklichen Würmer und Ungeziefer mitgeschleppt hatte. Das Schicksal der Katze und dass der Arzt sozusagen Entwicklungshilfe leistete, machten keinen Eindruck auf ihn: Er schrieb eine stattliche Rechnung. Die kleinen Delikatessen, die ich für Kumari kaufte, brachten ihr Fell zum Glänzen. Ein einfaches Ei hätte die selbe Wirkung, meinte Josephine, aber die Katze nahm zu und wurde ein schwarzes graziles Luxusstück, das den Küchenschrank krönte und von dort nicht herunter zu locken war. Ihr Futter holte sie sich, wenn wir schliefen oder außer Haus waren. Wenn sie zur Katzentoilette huschte, bekamen wir höchstens ihre Schwanzspitze zu sehen.
Ob ich an das Mädchen dachte? Wir schrieben uns per E-Mail. Sie stellte in ihrem schlichten, aber fast fehlerfreien Englisch Fragen zu Wien und den Schlössern und Parks. Sie schrieb, dass sie gern in Europa Architektur studieren würde. Ab und zu fügte sie einen deutschen Satz ein, den sie mit Hilfe eines Wörterbuchs zusammengesucht hatte. Ich überflog ihre langen Briefe im Büro, schrieb ein paar Worte in der Art, dass ich mich gern an die Stunden mit ihr erinnere und dass ich mich von ihr umkreist fühle wie von einem Stern. Genauer, aber unpoetischer, hätte ich schreiben müssen, sie umkreise mich wie ein Mond und das war noch auf eine zweite Weise wahr. Denn der Mond war wie ihr Bild mal ganz, mal halb, mal gar nicht sichtbar, abhängig von jenem dritten Gestirn, der Erinnerung. Wie konnte ich den wenigen Stunden trauen, in denen wir uns kennen gelernt hatten. In einer anderen Welt, in einer Ausnahmesituation.
Wir hatten uns nichts versprochen. Trotzdem zog ich es vor, Josephine nichts davon zu erzählen. Irgendwann schlief der Kontakt von selbst ein. Vielleicht war auch ich es, der aufhörte zu schreiben.
Ein paar Jahre später rief eine Frau im Büro an und sagte auf Deutsch, sie sei Rashmila aus Nepal und ob ich mich noch an sie erinnere. Mir fiel der Hörer aus der Hand und beim Hochheben muss ich versehentlich eine Taste berührt haben. Die Verbindung war beendet. Ich rief die Nummer zurück. Ich entschuldigte mich und fragte, wer dort sei. Rashmila sprach nun Englisch. Ich fragte in irgendeiner Geistesgegenwart, wo sie sich gerade aufhalte.
I´m in Vienna, antwortete sie selbstverständlich.
Where are you?, fragte ich noch mal.
In a hotel in Porzellangasse.
Stay where you are, rief ich in den Hörer und rannte am fragenden Gesicht meines Kollegen vorbei aus dem Büro. Im Taxi versuchte ich einen klaren Gedanken zu fassen und fragte mich, ob es nicht etwas voreilig war, zu ihr zu fahren ohne nach Begleitumständen zu fragen. Es konnte ja sein, dass sie geheiratet hatte und mit ihrem Mann durch Europa reiste. Aber viel stärker war der Wunsch, sie zu sehen, sie mit dem Bild abzugleichen, dass ich mir von ihr gemacht hatte.
In der Lobby des Hotels saß eine Frau mit Pagenschnitt und einer eleganten Anzugjacke über einem lila Rock, dessen goldener Rand auf dem Boden schleifte, als sie strahlend auf mich zu kam, ihre weißen Perlenzähne entblößte und meinen Namen nannte. Wir aßen in einem kleinen Restaurant, dass ich gut kannte, weil ich dort sonst mit Josephine aß und wir erzählten, als würden wir nur an die letzte E-Mail anknüpfen und mir fiel wieder ein, dass uns in den wenigen Stunden damals mehr verbunden hatte als eine körperliche Anziehung und dass mir zwar immer ihre knabenhaften Hüften und die schwarzen Augen vorgeschwebt hatten, aber nur, weil es das einzige Konkrete an dieser Erinnerung war. Ihr Körper war weiblicher geworden und sie sah so unwahrscheinlich schön aus, dass ich ihr gegenüber nie etwas anderes empfunden hätte als das Hingezogensein zu etwas Unerreichbarem. So und auch nur so, konnte ich Josephine die ganze Geschichte erzählen, denn ich wollte Rashmila nicht von meinem Leben ausschließen, ich wollte, dass sich beide Frauen kennen lernten und irgendwie ließ sich Josephine von der Harmlosigkeit der ganzen Sache überzeugen und stimmte zu, dass Rashmila ein paar Tage bei uns wohnen konnte.
Als Rashmila die Wohnung betrat, geschah etwas Merkwürdiges. Die beiden Frauen hatten sich gerade zurückhaltend begrüßt, als Kumari am Ende des Flures auftauchte, kurz stehen blieb und, wie es schien, unseren Gast anvisierte. Sie gab ein Tönchen von sich und wandelte in aller Seelenruhe in die Küche zurück. Beim Essen saß Kumari in einiger Entfernung auf dem Sofa, wo sie noch nie gesessen hatte und Rashmila hatte kaum ihr Besteck aus der Hand gelegt, da sprang ihr die Katze auf den Schoß und ließ sich streicheln.
Josephine versuchte sich ihre Gekränktheit nicht anmerken zu lassen und ich sagte im Scherz, dass Rashmila und die Katze die gleiche Sprache sprächen.
Ich machte für Rashmila eine Liste, wann sie welche Sehenswürdigkeit besichtigen könnte, erklätte ihr die Wege auf dem Stadtplan und versprach, am Wochenende mit ihr nach Schönbrunn zu fahren. Als ich am Donnerstagabend nach Hause kam, fand ich einen Zettel. Sie bedankte sich für unsere Gastfreundlichkeit und sei schon auf dem Weg nach England, wenn wir den Zettel finden würden.
Kurz darauf wurde Kumari krank. Der Arzt röntgte sie, entnahm Blut. Er konnte nicht sagen, was es war und verwies mich an einen Tierpsychologen.
Die Krankheit wirkte sich so aus, dass Kumari den Futterbecher nicht mehr ausschleckte, und sich in der Küche ihren Platz eine Etage tiefer neben der Arbeitsfläche einrichtete. Sie flitzte auch nicht mehr auf Toilette, sondern ging gemächlich, und alles hätte genauso gut als Zeichen einer normalen, gesunden Katze gelten können, wenn ihr nicht eine unbeschreibliche Traurigkeit anlastete.
Nach zwei Jahren kam per Post eine Nachricht aus England über Rashmilas Vermählung mit einem deutschen Ingenieur und sie lud uns herzlich aber augenfällig der Höflichkeit wegen zu ihrer Hochzeit ein. Uns. Dieses Uns bestand bald nur noch aus Kumari und mir. Josephine offenbarte mir, dass sie schon seit einiger Zeit ein Verhältnis mit einem Kollegen hatte und dass es an mir lag, weil ich für die Katze mehr Aufmerksamkeit übrig gehabt hätte als für sie. Es half nicht, ihr die schönen Stunden, die überwundenen Krisen, die gewachsene Verbindung aufzuzählen.
Ich ertappte mich dabei, dass ich immer häufiger an Rashmila dachte und versuchte, mir sie in England an der Seite eines Mannes vorzustellen, der wahrscheinlich zur Hochzeit einen Vertrag mit ihr abgeschlossen hatte, der schon die Scheidungsbedingungen festlegte. Ein deutscher Ingenieur. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Dafür wurde unser Spaziergang durch den ehemaligen Klostergarten wieder so lebendig, als wären zwischendurch nicht ganze sieben Jahre vergangen. Ich sah sie unter dem Torbogen mit vergoldeten Drachen und Schlangen stehen, als wir uns verabschiedeten. Nicht einmal einen Kuss haben wir gewagt. Sie glaubte an die Wiedergeburt und hatte mir fest in die Augen gesehen und ohne einen Anflug von Traurigkeit gesagt: Also dann, bis zum nächsten Leben.
Ein Zug war nicht zu sehen. Die Sicht auf die Gleise wurde zu beiden Seiten durch Büsche und Kurven beschränkt und da die Zikaden an diesem Sommerabend lärmten, als wäre der Sommer am nächsten Tag vorüber, konnte er nicht hören, ob ein Zug nahte. Er saß auf dem ausgeschalteten Mofa, ein Bein zur Seite gestützt und maß mit den Augen den Abstand von einer Schranke zur Gegenüberliegenden. Er sah einen ausgetretenen Pfad, der um das Warnkreuz herumführte. Er überlegte, welche Züge diese Gegend durchquerten und er konnte sich nichts anderes vorstellen als einen Güterzug oder einen Personenzug dritter Klasse, obwohl es ebenso möglich war, dass der Hochgeschwindigkeitszug, der den Süden im Zweistundentakt mit der Hauptstadt verband, durch diese gottverlassene Gegend fuhr. Bis zu den Kurven waren es auf beiden Seiten weniger als hundert Meter. Er rechnete sich aus, dass er die Schiene noch in Ruhe überqueren könnte, wenn er einen Güterzug um die Kurve biegen sah.
Das Bahnwärterhaus besaß in der obersten Etage zu drei Seiten Fensterfronten. Er bemerkte schemenhaft eine Person. Ein junges Mädchen trat ans Fenster. Er wusste nicht, was ihn dazu bewegte, ihr ein Zeichen zu geben, vielleicht weil er einen schweren Tag hinter sich hatte und eine gelassene Müdigkeit spürte. Vielleicht, weil er auf dem ganzen Weg keine Menschenseele getroffen hatte. Er deutete mit der flachen Hand auf die Bahnschiene und hob fragend die Schultern. Sie verstand. Sie zeigte mit dem Daumen nach rechts und tippte dann auf das Armgelenk, als trage sie daran eine Uhr. Er wandte sich wieder der Schranke zu und der Fortführung der Straße auf der anderen Seite. Er fühlte ihren Blick auf sich ruhen.
Als er wieder hoch sah, hatte sich das Mädchen ans Fenster gesetzt. Sie drückte eine schwarze Katze an ihren Leib. Von fern meinte er einen Zug zu hören. Das Mädchen stieß ihren Kopf verschmust gegen den Kopf der Katze. Das Geräusch wurde lauter. Das Mädchen öffnete ihre Bluse und drückte die Katze gegen ihre nackten Brüste. Der Schnellzug schoss mit seinem weißen schlangenhaften Kopf um die Kurve. Die Druckwelle ließ ihn ein wenig zurückweichen. Seine Haare flohen im Wind. Als der Lärm abgeschwollen war, saß das Mädchen nicht mehr am Fenster. Genauso phantomhaft, wie der Zug gekommen war, verschwand er wieder zwischen Bahnhängen und sonnenversengten Feldern.
Er startete den Motor und spürte die Vibration durch das Sitzpolster hindurch. Die Schranke tat keinen Wank. Er blickte wieder am Bahnwärterhäuschen hoch. Das Mädchen öffnete das Fenster und kletterte auf das schmale Fensterbrett. Sie hatte die Bluse lose über die Brüste geschlagen und sah ihn unverwandt an. Sie griff nach ihrem Rocksaum und zog den Rock in winzigen Rucken über die Knie. Er heftete seinen Blick auf die Schranke, die im leichten Wind kaum merklich schwankte. Er wartete. Dann schaltete er den Motor wieder aus, stieg ab und bockte das Mofa auf den Ständer.
Hör mal, rief er, willst du mich nicht endlich rüberlassen?
Das Mädchen zog den Rock noch etwas höher. Zwischen ihren Schenkeln tauchte ihre scheinbar noch nicht sehr dicht behaarte Scham auf. In ihrem Rücken strich die Katze entlang und reckte den zitternden Schwanz in die Luft.
Komm doch rauf, sagte das Mädchen und bevor er etwas erwidern konnte: Es gibt nur ein Problem. Mein Vater hat unten die Tür abgeschlossen.
Er sah auf die grün gestrichene Holztür und dann wieder auf die Schenkel des Mädchens.
Wie soll ich denn da rauf kommen?